Münster, Samstagnachmittag. Der Himmel hängt tief wie ein alter Vorhang über einer Stadt, die eigentlich lieber Fahrrad fährt als Nazis zu sehen. Doch da sind sie wieder: rund siebzig Gestalten, die aussehen, als wären sie direkt einem Geschichtsbuch entflohen – das Kapitel, das man normalerweise lieber überspringt. Der „Freundeskreis Siegfried Borchardt“, rechte Veteranen und Jungvolg, T-Shirts mit Runen und Sprüchen, die nach 1945 eigentlich im Giftschrank verschwinden sollten.
Sie marschieren. Zum dritten Mal in diesem Sommer. Wieder Münster. Wieder Lärm, wieder Wut. Und wieder stehen ihnen hunderte Menschen gegenüber – laut, bunt, unerschrocken. Das Bündnis „Keinen Meter den Nazis“ füllt die Straßen mit Transparenten, Trommeln, Megaphonen. Rund 400 allein am Bahnhof, dazu Hunderte weitere am Servatiiplatz, an der Piusallee, überall.
Die Polizei, nervös und in schimmerndem Kunststoff verpackt, versucht das Unmögliche: zwei Welten auseinanderzuhalten, die sich gegenseitig hassen. Ein Hubschrauber kreist über den Köpfen wie ein misstrauischer Geier, Reiterstaffeln klappern über den Asphalt. Münster wirkt für ein paar Stunden wie eine bizarre Bühne – ein Theater aus Wut, Trommeln, Blaulicht und Farbbeuteln.
Und dann fliegen sie auch schon: knallblau, glitschig, wütend. Farbe auf Stiefeln, Farbe auf Schildern, Farbe auf Polizisten. 23 Beamte, so heißt es später, hätten Treffer abbekommen. Drei Rechte auch. Es riecht nach Farbe, Schweiß, Pipi und kaltem Kaffee.
Auf der anderen Seite, bei den selbsternannten „Patrioten“, hallen die alten Phrasen durchs Megafon – Repression, Polizeischikanen, Systempresse. Sie wollen sich als Opfer sehen, als letzte Bastion gegen einen Staat, der sie angeblich mundtot machen will. Dabei marschieren sie quer durch Münster, eskortiert von genau diesem Staat, der sie angeblich knebelt. Ironie, die keiner mehr zu bemerken scheint.
Christian Worch ist wieder dabei – ergraute Eminenz der Szene, 69 Jahre alt, mit dem Eifer eines Mannes, der einfach nicht aufhören kann. Neben ihm junge Gesichter, zu jung für die Parolen, die sie tragen. „Gelobt sei, was hart macht“, steht auf einem Shirt. Vielleicht ist es das Motto des Tages.
Die Route führt vom Bremer Platz zum Verwaltungsgericht an der Piusallee, wo die Rechten Reden schwingen über Grabsteine, Gerichtsurteile und angebliche Schikanen der Polizei. Im Kern geht es noch immer um den toten „SS-Siggi“ Borchardt, dessen Grab in Dortmund zum Mythos einer Szene geworden ist, die einfach nicht begreifen will, dass die Geschichte längst über sie hinweggerollt ist.
Die Gegenseite ruft, pfeift, tanzt, lacht. „Wo ist euer Aufmarsch?“, hallt es spöttisch über die Bahnhofsstraße. Münster zeigt, dass man Nazis hier nicht laufen lässt – nicht ohne Widerstand, nicht ohne Farbe. Carsten Peters vom Bündnis bringt es auf den Punkt: „Wo sie auftauchen, gibt es Proteste. Das ist hier Gesetz.“
Und das ist vielleicht die einzige Konstante in dieser seltsamen Republik der Widersprüche: Während irgendwo im Land Politiker über Demokratie streiten, halten in Münster hunderte Menschen einfach die Stellung – auf der Straße, mit Stimme, Farbe und Haltung.
Als die Sonne langsam verschwindet und der letzte Farbfleck im Regen verläuft, bleibt nur die Müdigkeit. Eine müde Stadt, die wieder einmal gezeigt hat, dass sie lebt. Und dass sie keine Lust auf braune Märsche hat.
Münster atmet durch. Bis zum nächsten Mal. Denn die Rechten haben schon angekündigt: Sie wollen am Heiligabend wiederkommen.
Frohe Weihnachten, Deutschland.